...plauderseite
Westbahnhof, 19.1.2003, 20.30

Der Durst nach Rausch treibt mich hinaus. Hinüber. Der Shop hat noch offen.
Und da steht ein Mann. Zwischen 60 und 70 und redet und redet und redet...
"Ausse!!!"
"I red jo ned mid eich. I führ jo söbstgespräche."

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das ist eigentlich der erste Teil

Regina „Gina“ Spanny

Wie aus der Aktion "Hallo Nachbar" ein "Nachbar in Not" werden kann

Eine Langzeit - Reportage

Mit Nachbarn hat wohl jeder so seine Erfahrungen und an und für sich sind Nachbarn ja eine praktische Erfindung, einmal abgesehen davon, daß sie auch ein notwendiges Übel sind, in Zeiten einer ständig wachsenden Bevölkerungsdichte. Aber manchmal gibt es ganz besondere Exemplare von Nachbarn. Ich scheine da ein besonderes Talent zu haben, mich immer mit noch besondereren Nachbarn zu umgeben und das ist mein Glück, denn sonst wäre es wohl nie zu dieser wohlrecherchierten Undercover - Reportage gekommen.
Zum Zwecke einer möglichst abdeckenden Studie, habe ich mir jetzt auch eine Wohnung in Wien genommen, um einen Vergleich zwischen Stadt- und Landnachbarn ziehen zu können. Ich bin also doppelt gesegnet mit noch besondereren Nachbarn.
In Wien wird die angrenzende Wohnung von einer etwas verwirrten alten Dame bewohnt. Meine erste akustische Begegnung mit ihr war schon ein tolles Erlebnis.
Ich war ganz alleine in meiner neuen Wohnung, die ich mit einer Kollegin und ihrem Freund bewohne. Und man weiß ja, wie das so ist, in einer neuen Umgebung: Viele unbekannte Geräusche und man hört eben auf alles, was einem ungewohnt ist. (Nein, im Normalfall bin ich kein Angsthase, keine Rede, aber besser zweimal hingehört, als einmal umsonst gefürchtet.) Wie ich schon sagte: Ich war ganz alleine in meiner Wohnung, als ich Ohrenzeuge einer schier unglaublichen Schimpftirade wurde: "Kaarrlli, du Oaschloch" tönte es da aus der anderen Wohnung. "Geh her da, du Trottl. Wiast jetzt herkumma, du Depp? Karrllii, du Oaschloch."
Ich hatte Mitleid mit dem armen Kaarrlli, denn ich konnte mich nicht erinnern, einen Streit gehört zu haben und beschimpfter Karli wehrte sich auch nicht, in dem er etwa zurückbrüllte.
Aber immerhin faßte ich den Beschluß, mich immer vorher zu vergewissern, daß die Nachbarin nicht auch gerade aus dem Haus ging, wenn ich das vorhatte.
Als meine Wohnungskollegin nachhause kam, berichtete ich mein ultimatives Hörerlebnis vom Nachmittag und fragte, wer denn der bemitleidenswerte Karli wäre. "Ah, die alte Höflingerin Name von der Redaktion nicht geändert is ihr wiedereinmal der Kater opascht." Eine Katze?- Ja, eine Katze. Also eine Katze. Ich war einigermaßen erleichtert. Aber mittlerweile weiß ich, daß die Höflingerin nicht viel Unterschied macht, ob das jetzt der abtrünnige Kater ist (weshalb er wohl immer wieder Fluchtversuche startet), der Installateur, der Briefträger oder gar der Hausmeister. Der zeitgeschaltete Lichtschalter am Gang ermutigt sie sogar zu behaupten: "Ihr seids jo alle Oaschlöcher.", nur weil sie denkt, irgend so ein besonders hinterfotziger Mitbewohner würde ihr immer das Licht abschalten, wenn sie gerade mitten auf den Stiegen ist.
Aber, man gewöhnt sich an alles, so auch an das heisere Geschimpfe unserer guten Nachbarin. Obwohl es schon dann und wann eine Schrecksekunde gibt. Eines schönen Abends, wir hatten uns alle schon zum Schlafengehen hergerichtet, hörten wir von drüben: "Hilfe, Hilfe. Es brennt. Es brennt." Zuerst taten wir es ab, mit einem "Die Höflingerin", aber dann flog das Fenster auf und sie rief hinaus in den Hof: "Hilfe, Hilfe, es brennt. Es brennt. Hallo, es brennt." Nun waren wir doch etwas besorgt, um nicht zu sagen alarmiert und meine Wohnungskollegin weckte ihren Geliebten, auf daß er bei der Nachbarin nach dem Rechten sähe. Der meinte, das sei doch nur wieder so ein Anfall von ihr, doch wir redeten ihm zu, besser nachgeschaut, als Mitschuld tragen am Flammentod der alten Höflingerin. Ihre erneuten Rufe halfen mit, ihn in die Jeans zu bewegen. Er hatte sich gerade ins T- Shirt gewurstelt, als es von Neuem klang: "Es brennt. Es brennt, im Fernseher drinnen, schauen sie sich das an, auf dem und dem Sender, das müssen sie sich anschauen, wie es da brennt." Dann schlossen sich die Fensterflügel wieder und es kehrte Ruhe ein. Wir atmeten erleichtert durch, der Geliebte murmelte etwas von "Ich hab’s euch ja gleich gesagt." und ging wieder schlafen und wir zwei hysterischen Weiber tranken ein Bier auf die gute Nachbarschaft.

Ja, so ist das in der großen Stadt, wenn man vor Alter und Einsamkeit das Gefühl für die Realität verliert. Da kann es schon vorkommen, daß man sich dann vor den Fernseher stellt, wo gerade ein Boxkampf läuft, auf die Teufelsmaschine eindrischt und dazu brüllt: "Ihr Oaschlecha, heats auf zum Boxn. Aufhörn hob i gsagt. Weats ihr aufhörn, ihr Oaschlecha, i kaun ma des ned auschaun.", statt daß man einfach die Fernbedienung nimmt und auf einen anderen Kanal schaltet. Es muß ja nicht unbedingt immer Eurosport sein.

Am Land ist das freilich ganz anders. Da gibt es keine so verrückten Leute. Am Land sind sie eben etwas anders verrückt und von Realitätsverlust kann auch nicht die Rede sein. Ganz im Gegenteil, da gibt es sogar Leute, die sind so eingesponnen in die eigene Realität, daß sie die Realität der Anderen gar nicht mehr wahrnehmen oder so intensiv wahrnehmen, daß Triebe und Hormone anfangen, gar arge Streiche zu spielen.
Den Abschnitt der Reportage, der sich auf dem Lande abspielt, möchte ich der Einfachheit halber und auch aus gegebenem Anlaß, mit "Romea und Julio auf dem Lande" betiteln, mit Dank an den leider schon verstorbenen Kollegen Willi Shakespeare für die Inspiration und Anlehnung. Daraus ergeben sich auch die Namen der Protagonisten, nämlich Romea und Julio, was gar nicht so schlecht ist, denn so läßt sich wenigstens ein Rest von Anonymität wahren und vielleicht nehmen sich dann etwaige Peinlichkeiten nicht ganz so peinlich aus. Die Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht erfunden, ebensowenig die Orte, das Folgende ist somit bitterer Ernst.
Dann fange ich einmal an, die leidige Geschichte zu erzählen: In einem Ort unweit der Landeshauptstadt, gibt es zwei Familien. Sie sind Nachbarn. Wie könnte es auch anders sein, in einer Langzeitreportage über Nachbarschaft. Im Gegensatz zu den Familien in Willis Tragödie sind diese Familien nicht verfeindet (noch nicht zumindest), ganz im Gegenteil, die Mutter Romeas ist die Schwester des Nachbarn, der Nachbar also der Onkel der Romea und gleichzeitig so etwas wie der Stiefvater des Julio. Das hört sich nur kompliziert an, ist es aber nicht, weil er nämlich (der Onkel) nicht mit der Nachbarin verheiratet ist (was sie sehr verdrießlich stimmt) und diese einen Sohn, eben den Julio, in die Beziehung mitgebracht hat (was wiederum den Onkel manchmal sehr verdrießlich stimmt, denn mit dem Stammhalter wird es wohl jetzt nix mehr) und somit hat sie ihn auch in die Nachbarschaft mitgenommen, was jetzt die Romea ziemlich zur Weißglut bringt.
Die Romea ist etwa sechs Jahre älter als der Julio, aber das stört ihn überhaupt nicht, denn wo die Liebe hinfällt wächst kein Gras mehr. Das ganze fing so an: Der Onkel lernt die Nachbarin kennen, die damals freilich noch nicht die Nachbarin war, und die zieht mitsamt dem Sohnemann, der damals noch sehr jung war, beim Onkel ein und jetzt ist sie eben doch die Nachbarin. Und wie anfangs schon erwähnt, Nachbarn können eine ganz nützliche Erfindung sein und die Familie der Romea nahm sich der Neuankömmlinge an, vonwegen neuer Umgebung, Schulwechsel und überhaupt. Viele Probleme gab es da zu bewältigen, aber nach all den Jahren haut jetzt alles so halbwegs hin.
Der Julio wuchs zu einem jungen Mann heran und somit wechselte das Gefühl der Zuneigung zu Romea in stürmische, kaum im Verborgenen zu haltende Liebe.
Da hilft kein Predigen, kein Gutzureden, keine wüsten Drohungen und auch kein grausames Spiel. Es ist wie es ist, und Julio ist unsterblich in die Romea verliebt. Jetzt könnte man annehmen, das würde der Romea schmeicheln, daß ein um so viel jüngerer Mann in sie verliebt ist. Tut es aber nicht. Nicht daß er nicht liebenswert wäre, aber vor allem ist er ein furchtbarer Quälgeist, der einem ständig die volle Aufmerksamkeit abverlangt, in dem er ständig, und vor allem wenn er das Gefühl hat, man würde ihm nicht zuhören, den Vornamen des Ansprechpartners einbaut. Eigentlich ein genialer Kniff, aber eben furchtbar mühsam, vor allem wenn man sich darauf konzentriert, ihm tunlichst nicht zuzuhören. Das hört sich dann etwa so an: "Heute war ich Fußballspielen, Romea. Und heute hat es ja so geregnet, gell Romea und es war furchtbar gatschig, aber ich habe zwei Tore geschossen. Da steht der Karli und der will mir den Ball abnehmen, aber weil es so gatschig war haut er voll in den Gatsch, Romea und ich geh an ihm vorbei und hau den Ball ins Tor. Du, Romea..." Besonders lustig sind die ewigen Fußballnachbesprechungen dann, wenn man eigentlich etwas besseres zu tun hätte, als Julios Heldentaten in der Schlammschlacht zu lauschen. Aber in seiner Großzügigkeit übersieht Julio diese Umstände ganz und gar generös.
Aber es sind nicht nur die Ausführungen über Fußball. Er hat auch so ein paar furchtbare Angewohnheiten.
Das Haus der Romea ist immer offen für alle Menschen. Und nachdem es das Zuhause Romeas ist, kann es schon dann und wann geschehen, daß sie nicht vollständig bekleidet herumläuft, um fehlende Kleidungsstücke im Wäschezimmer zu suchen. In solchen Momenten ist der Ruf Julios "Hallo Nachbarin!" immer sehr erbaulich. Nicht, daß sich Romea ihres Körpers schämen würde, nein, das nicht, aber man muß ja nicht schüren, was man eigentlich lieber löschen würde, nämlich das Begehren des Nachbarn Julios. So erbat sie sich, er möge doch bitte, bevor er das Haus betritt anklopfen, daß man sich auf sein Kommen einstellen kann. Gut, jetzt klopft der liebe Julio artig an, nur, daß klopfen, Tür aufreißen, eintreten und "Hallo Nachbarin" quasi eine Bewegung sind und man sich somit erst recht nicht auf den Besuch, der mindestens dreimal am Tag stattfindet, einrichten kann. Wenn sich Julio wenigstens an fixe Zeiten halten würde, aber nein, er taucht immer dann auf, wenn es ihm paßt und wenn es Romea am allerwenigsten paßt. Wenn sie sich zum Beispiel gerade zur Arbeit setzt oder telefoniert.
Apropos telefonieren. Der Julio fühlt sich so zuhause im Hause Romeas, daß er gar nicht mehr bemerkt, wenn er aufdringlich oder indiskret wird. Eines Tages telefonierte Romea also und da erschallte der Ruf "Hallo Nachbarin". Julio kam und stellte sich in die Türe. "Hallo Julio. Ich telefoniere gerade." Die Reaktion eines normalen Nachbarn wäre wohl gewesen "Dann schaue ich später nochmal vorbei." oder zumindest "Ja. Entschuldige, ich habe nur eine kurze Frage.". Nicht so bei Julio, der sagt "Ja.", bleibt in der Tür stehen und hört dem Gespräch in aller Seelenruhe zu, er kommt nicht einmal auf die Idee, derweil in einem anderen Raum zu warten. Nichts, gar nichts dergleichen. Und das wurmt, denn die Fragen Julios sind immer von extremer Wichtigkeit. Sie lauten etwa so: "Du weißt nicht zufällig, wo meine Leute sind, Romea." "Nein, weiß ich nicht. Ich bin selbst erst gerade nachhause gekommen." "Aha. Na gut. Na dann... geh ich jetzt wieder." "Ja. Tu das." "Nagut. Also, tschüs dann." "Ja, tschüs." "Weißt du schon Romea, ich war heute Fußballspielen..." und bis er dann nach etwa 25 weiteren Verabschiedungen bei der Tür draußen ist, ist eine Viertelstunde vergangen. 15 Minuten kostbarer Lebenszeit vertan mit Abschiedsfloskeln und Fußballberichten und nicht zu vergessen existentiellen Fragen wie: "Ist dein Bruder daheim." "Wo sind deine Leute." "Du weißt nicht zufällig ob meine Mutter heute bei euch war." und so fort.
Aber am schlimmsten sind solche Julioerlebnisse dann, wenn Romea wirklich wichtiges zu tun hat, ihr von Julio ungeniert dabei zugesehen wird, und er glaubt zu wissen, was sie tut oder er krampfhaft versucht, zu durchschauen, was sie macht. Romea führt ein Buch, das eine Kombination aus Tage-, Arbeits- und Zitatenbuch ist. Und letztens schreibt sie gerade wichtige Passagen eines Textes in dieses Buch, unerhörter Weise aus einem anderen Buch heraus. Julio kommt, sieht Romea bei der Arbeit. "Das ist dein Tagebuch, gell Romea." "Nein, das ist so etwas wie ein Arbeitsbuch." "Du schreibst gerade, gell Romea." "Ja. Ich versuche es zumindest." "Ist das deine Aufgabe, Romea?" "Nein, Julio, ich mache das freiwillig." "Aha." Hartnäckig schaut er bei der Arbeit zu. Romea unternimmt alles um ihm zu zeigen, daß er stört und daß er verschwinden soll. Alle Zeichen werden großzügig ignoriert. Er ignoriert sogar, daß Romea ihn ignoriert. Er ist unverbesserlich. Schließlich glaubt er durchschaut zu haben, was Romea macht: "Gell Romea, du schreibst die großen Absätze aus dem Buch nocheinmal für dich zusammen." "Nein." "Aha." "Julio, ich versuche zu arbeiten." "Aha." und er macht sich noch breiter im Fauteuil. Keine Chance. Romea verläßt fluchtartig das Zimmer. Julio bleibt unbeeindruckt und folgt ihr auf den Fuß. Romea holt sich Tee. "Gell Romea, du holst dir Tee." Romea ist ob soviel Hartnäckigkeit unfähig irgendwie zu reagieren. Glücklicherweise kommt da ihre Mutter und löst sie ab. Romea flüchtet sich in ihr Zimmer.
Da klopft es an die Tür. Es ist Julio "Ich geh jetzt." 25 Verabschiedungen, dann schiebt er sich gemächlich rücklings durch die Tür und verschwindet. Für diesmal. Aber er wird wieder kommen. Und wieder und immer wieder. Die Qualität seiner Fragen wird sich nie verbessern und sein Gespür dafür ob er stört auch nicht. Romea wird Julio nicht heiraten. Oder wenn, dann nur um endlich Ruhe vor ihm zu haben. Das sind ihre Anfälle von Wahnsinn.
Als die Tür ins Schloß fällt bekommt Romea einen Schreikrampf und führt einen furchtbaren Veitstanz auf, um sich Luft zu verschaffen. Da dringt Gelächter aus dem Arbeitszimmer des Vaters. Romea stößt die Tür auf und schreit: "Das ist nicht lustig." Ihr Vater ist da anderer Meinung und lacht lauthals. "Wieviel Jahre bekommt man, glaubst du, wenn man jemand in Notwehr erwürgt." Jetzt muß Romea auch lachen, aber nur, damit sie vor Verzweiflung nicht losheult. Am Ende dieses strapaziösen Tages bekommt Romea ein SMS: Ich denk an dich, ich liebe dich, von ganzem Herzen, mit Schmerzen, Dein Julio.

Von wegen, Hallo Nachbar. Ich bin eindeutig ein Nachbar in Not.

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Alte Dame

Es war eine dieser trübsinnigen Winternächte in denen ich trübsalblasend ohne Kraft für irgendwas, per Handy einem lieben Menschen die Ohren volljammernd heimwärts strebte. Ich ging und haderte mit meinem Schicksal und wollte einfach nur heim.
Womit ich als letztes gerechnet hatte, nicht zuletzt aufgrund der vorgerückten Stunde und was ich auch als letztes brauchte war eine Begegnung, mit irgendeinem meiner noch besondereren Nachbarn. Doch – nein.
Es war wohl eine dieser schicksalsschweren Nächte und ebenjenes hatte offenbar nicht die Lust mich zu schonen.
Ich stolperte die Stiegen hinauf zu meiner Wohnung und schon am Haustor hatte ich die alte Höflingerin lamentieren gehört. Aber wie gesagt: Ich wollte heim, in die mir vertraute Umgebung, um meinen Anfall von Allgemeinparanoia auszukurieren und wenn der Weg dorthin an der alten Höflingerin vorbeiführte, dann musste es eben sein.
Und da stand sie. Am Gang und versperrte mir den Weg – es wären noch eine Stufe und danach vielleicht vier, fünf Schritte bis zur Tür gewesen und ich hätte der Menschheit für diese Nacht den Rücken kehren können.
Nein.

Sie grüßte. Freundlich. Fast schon zu freundlich. Seit meiner ersten, ausführlich berichteten, akustischen Begegnung mit ihr, fürchtete ich dieses Treffen. Denn wenn ich etwas auf den Tod nicht ausstehen kann, dann sind das unberechenbare und, zumindest verbal, gemeingefährliche Nachbarn und ausgerechnet in einer Nacht, in der eine Welle egokosmischen Allerweltseelenschmerzes in brachialer Gewalt über mir zusammenschlug, schon gar nicht.
Aber sie war freundlich. Und sie strahlte richtiggehend von innen heraus. Fast schon verklärt war das.
Naja. Und da mir offensichtlich ohnehin nichts Anderes übrig blieb, als jetzt auch noch nachbarschaftlichen Smalltalk zu führen, so erwiderte ich ihren Gruß und fügte mich in mein Schicksal drein.

Dann holte sie Luft und setzte zu einer Rede an.
Innerlich hob ich meine Hände schützend über den Kopf und spannte die Bauchmuskeln an und überhaupt alles spannte sich in mir an. Sie stand viel zu nah, fast Nase an Nase und wenn sie mir jetzt gleich unter dieselbe reiben würde, welches Arschloch ich nicht sei, dann würde ich nicht nur knapp an einem Gehörsturz vorbeigehen, nein, mir würde auch ihr Drachenatem um dieselbe wehen und die feuchten, spuckigen Reste ihrer Aussprache würden sich gleichmäßig in meinem Gesicht verteilen.
Ich war also die Treppe hinaufgestolpert, stand auf der letzten Stufe und Aug in Aug mit der alten Höflingerin.

„Wissen sie,“ hob sie an, und ihr Odem stank nicht nach Schwefel, sondern roch angenehm nach einem Pfefferminz – Zuckerl, „Wissen sie,“ fing sie also an, „ich warte nämlich auf den lieben Gott.“ Und bei den beiden „tt“ rutschte das Zuckerl bedrohlich weit an ihre Vorderzähne.
Meinen Blick hätte ich auch gerne gesehen.
„Mein Gott, sie sind ja noch so jung.“
„Naja...,“ versuchte ich zu widersprechen, denn mit fast fünfundzwanzig fühlt man sich zeitweise nicht ganz so jung.
„Aber wissen sie,“ fuhr sie fort „ich bin ja schon achtundachtzig.“
„Daschau.“
„Und heute kommt der liebe Gott und holt mich.“ Und voller Inbrunst kreuzte sie die Hände vor der Brust.
„Und jetzt steh i da am Gang und wart auf den lieben Gott. Ich hab nämlich mit ihm gesprochen. Wirklich – das müssen s´ mir glauben, ich red ja immer mit dem lieben Gott und er hat versprochen, er kommt heute.“
Ich muß wohl mehr als nur ungläubig dreingeschaut haben, denn rasch hob sie die rechte Hand zum Schwur: „Wirklich, das müssen s´ mir glauben. Ich schwöööre.“
„Ja. Frau Höflinger. Ich glaub ´s ihnen schon.“
„Ja, wissen s´ - und der liebe Gott, der lügt ja nicht, weil der liebe Gott, der ist ja ....“
Jetzt hing sie offenbar im Text und mit Spannung erwartete ich, was denn der liebe Gott nun sei.
„... der liebe Gott, der ist ja so ein l-i-e-b-e-r Gott.“
„Ja. Das stimmt. Das ist er.“
„Ja. Und jetzt steh ich da am Gang und wart auf den lieben Gott.“
Also langsam gingen mir jetzt die Beipflichtungen aus und ich drückte mich an ihr vorbei und hatte nun doch die letzte Stufe geschafft. Und da ich nun auf der selben Ebene mit ihr stand, sofern das an diesem beseelten Abend überhaupt möglich war, fiel mir auf, wie klein die Frau Höflingerin eigentlich ist. Gut einen Kopf kleiner als ich. Und das will bitte was heißen. Und sie hatte sich schön gemacht für den lieben Gott. Sie hatte einen adretten Zweiteiler an, eine schöne Seidenbluse und beachtlich jugendliche Schuhe. Sogar geschminkt hatte sie sich. Extra, für den lieben Gott.
Offenbar bemerkte sie meine musternden Blicke, denn plötzlich fing sie an: „Und mein Gott, einen so einen schönen Haarschnitt haben sie. Aber schaun s´ mich an, wie i ausschau, und des, wo heute der liebe Gott kommt und mich holt.“
Es stimmte, ihre Frisur saß nicht gerade perfekt, aber so schlimm war es auch wieder nicht, also beschwichtigte ich: „Aber nein. Des passt scho.“
„Glauben s´“
„Ja. Ganz bestimmt.“
„Wissen s´. Jetzt steh i so wie i ausschau am Gang und wart auf den lieben Gott.“

Bei aller Begeisterung der Frau Höflinger – mir wurde es jetzt langsam ein bisserl zu viel und gerade in dem Moment, als mir gewahr wurde, dass ich vergeblich um eine Rausrede kämpfte, da mauzte der gute alte Karli – Kater ganz erbärmlich und herzzerreißend. Schnell lenkte ich ein: „Ja was hat er denn, der Karli.“
„Mein Gott, der Karli. Der arme Karli, der is ja da ganz allein drin. Wissen s´“, und sie lief vor zur Stiege und spähte in Erwartung Gottes hinunter, „... i wart nämlich auf den lieben Gott. Aber i weiß ja net, wann er kommt.“
In der Zeit, in der sie zur Stiege ging, schaffte ich es zu Wohnungstür, steckte den Schlüssel an und sperrte auf.
„Ja. Ich fürchte, das weiß man beim lieben Gott nie so genau.“
In der Zwischenzeit war sie wieder bei mir.
„T´schuldigen s´, mein Gott t´schuldigen s´. I halt ihnen ja auf. Wiederschaun. Karli, armer Karli, i komm ja schon. Wiederschaun.“ Und sie machte sich daran in ihre Wohnung zu gehen.
„Wiederschaun Frau Höflinger. Und viel Glück noch beim Warten auf den lieben Gott.“
„Ja. Dank ihnen schön. T´schuldigen s´. Karli, armer Karli…” – Dann verschwanden wir beide in unsere Wohnungen.

Ich weiß nicht. Ich habe das Stück zwar nie gesehen, geschweige denn gelesen, aber die ganze Chose erinnerte mich heftig an Becketts „Warten auf Godot“. Und außerdem hatte ich nicht die geringste Ahnung, warum ausgerechnet der liebe Gott es notwendig haben sollte, über die Treppe zu kommen.
Als meine Wohnungskollegin heimkam, erzählte ich die Geschichte von der alten Höflingerin. Sie sah mich ungläubig an – jetzt hatte ich aber wenigstens eine Idee, wie ich vorher dreingeschaut haben musste – jedenfalls meinte sie nur: „Geh, hör auf.“
Ich schwor, dass es so war, sie schenkte mir noch immer keinen Glauben, als die Höflingerin aus ihrer Wohnung polterte und schrie: „Der liebe Gott holt mich heute.“
Ein anderer Nachbar reagierte und meine Wohnungskollegin machte so große Augen, dass ich fürchtete, sie würden ihr aus den Höhlen purzeln.
„Frau Höflinger. Was ist denn los?“, kam es von irgendwo oben.
„Der liebe Gott holt mich. Er hat´ s mir versprochen.“
„Ja, Frau Höflinger. Aber jetzt gen s´ schlafen.“
„Sie glauben mir des nicht. Aber der liebe Gott hat´ s versprochen – UND GLAUBENS DER LIEBE GOTT LÜGT?“
„Nein Frau Höflinger, aber jetzt beruhigens ihnen und gehen s´ schlafen.“
„Ja. Aber der liebe Gott, der lügt nicht, weil der liebe Gott, der lügt nicht.“ Das war mehr als logisch und zwei Wohnungstüren fielen ins Schloß.
Mit meinem „Na – ich – hab´ s – dir – ja – gleich – gesagt“ – Blick, sah ich meine Wohnungskollegin an und sie meinte: „Na hoffentlich stirbt uns die heute Nacht nicht wirklich.“
„Weißt du was,“ entgegnete ich „auch, wenn sich das jetzt wild anhört, aber ich hoffe für sie, dass der liebe Gott wirklich kommt und sie holt.“
„Du spinnst ja.“
„Nein. Was glaubst du, wenn sie morgen noch lebt, was das für eine bittere Enttäuschung für sie sein muß.“
„Geh, bitte! Sei nicht komisch. Die erinnert sich morgen sicher nicht daran.“

Ich wünschte eine gute Nacht und war mir keineswegs sicher.
Nächsten Morgen traf ich Monika, meine Wohnungskollegin in der Küche. Ich verzichtete ihr einen guten Morgen zu wünschen und begrüßte sie gleich mit einem: „Und. Schon was von der Höflingerin gehört?“
„Nein. Alles ruhig.“
Ich beruhigte mich selbst, dass das nichts zu bedeuten hätte. Monika und ich frühstückten gemeinsam, schließlich ging sie ihrer Wege und ich unter die Dusche, ständig mit einem Ohr bei der Nachbarin. Gut dass das Bad jener Raum mit der besten Akustik ist, denn bald hörte ich von drüben eine altvertraute Stimme (sofern man das so nennen kann): „Lieber Gott, lieber Gott. Ich wart auf dich, ich wart auf dich. Bitte komm, bitte komm.“ Immer und immer wieder wiederholte sie das, wie eine Litanei und ich war mir irgendwie sicher, dass sie darüber mehr oder minder in Trance gefallen war.
Ich fühlte mich in einer komischen Situation. Einerseits war ich froh, dass die Alte noch da war und auf der anderen Seite konnte ich ihre Enttäuschung nachfühlen. Da saß diese – zwar keineswegs arme, aber immerhin alte Frau nun in ihrer Kemenate, der liebe Gott hatte zwar nicht gelogen, aber immerhin sein Versprechen gebrochen und rezitierte unaufhörlich ihr „Lieber Gott, lieber Gott, ich wart auf dich, ich wart auf dich, bitte komm, bitte komm.“ Und, darf ich ganz ehrlich sein? – ich fürchtete den Moment, in dem das „bloß“ gebrochene Versprechen zur blanken Lüge würde. Denn dann würde am Gang nicht fromm auf den lieben Gott gewartet, sondern dann würde dort die Hölle los sein und wehe dem, der durch das Inferno musste.
Ich glaube so schnell wie an diesem Morgen, war ich noch nie fertig. Abtrocknen, föhnen, anziehen, Tasche packen, Wohnungstür auf, ab und weg, waren nahezu eine Bewegung. Mir war nicht wirklich nach Dante.
Aber, ich konnte mich ja schlecht ausquartieren, nur um dem seelenschmerzbedingten Rundumschlag der Höflingerin auszuweichen. Ich musste wieder in die Wohnung. Eine verwirrte Nachbarin gilt, glaube ich, nicht wirklich als Asylgrund. Ich schaffte es gerade noch in die Wohnung, als auch schon die Höflingersche Tür aufflog. Diesmal kam wirklich der wutschnaubende Drache heraus und donnerte durchs Haus: „Alles Lüge. Alles gelogen. Gelogen, gelogen, gelogen.“
Wut war das und Bitterkeit – also wirklich: So etwas durfte sich ja nicht einmal der liebe Gott erlauben. Was heißt da eigentlich nicht einmal? Der durfte sich das schon gar nicht erlauben. Und darf ich noch einmal ganz ehrlich sein? Ich fürchtete schon, die alte Höflingerin würde sich einer Blasphemie hingeben und den lieben Gott ein Arschloch schimpfen. Und ich muß hier ausdrücklich betonen: Trotz der bitteren Enttäuschung blieb der liebe Gott der liebe Gott, nur war das „liebe“ plötzlich ganz anders betont.

Die Stunden, Tage und Nächte kamen und gingen und es wurde wieder ruhig im Haus, bis – ja – bis ich eines schönen Abends das Haustor aufsperrte, zur Stiege stolperte und mich dort ein vollkommen entgeistertes, fettes, haariges Etwas in Empfang nahm, das ich sofort als Karli identifizierte. Ich sprach ihn an. Er duckte sich und starrte mich an. Nachdem ich wusste, dass es für die alte Höflingerin nur ein Unglück gab, das fast so groß war, wie das gebrochene Versprechen vom lieben Gott, nämlich wenn der entkaterte Kater abtrünnig wurde, so fasste ich mir also ein Herz und als nächstes den Karli und trug ihn hinauf, nicht ohne Proteste seitens des Viehs und nicht wenig erstaunt darüber, was so ein Kaschmir – Mantel alles aus- und abhält.
Als ich oben war, fasste ich mir noch ein Herz, das Katzentier fest an mich gedrückt, auf dass es nicht wieder die Flucht ergreife und klopfte an die Tür, meiner wirklich schon ausnehmend besonderen Nachbarin.
„Ja. Ich komm ja schon, ich komm ja schon,“ ging es von drinnen. Sie öffnete.
„Grüß Gott Frau Höflinger,“ grüßte ich und mir fiel auf, wie sehr ich mich zusammenreißen musste, nicht Frau Höflingerin zu sagen, „ich bringe ihnen den Karli.“
„Aja, da is ja der Karli. Danke, dankeschön gnä Frau.“
„Bitte gern geschehen.“
„Sagen s´, t´ schuldigen s´, sie haben net zufällig den lieben Herrn Jesus Christus gesehen?“
„Nein. Tut mir leid. Heute noch nicht.“
„Ja. T´ schuldigen s´. Dankeschön gnä Frau. Hawe d´ Ehre.“
„Bitte...“
Und dann knallte sie mir die Tür vor der Nase zu. Drinnen bekam der arme Karli ordentlich Arsch hoch, aber wenigstens war ihr Lamentoso zwischenzeitlich durch ein intermedienhaftes Furioso unterbrochen.
Den Abend lang verhielt sie sich ruhig, doch folgenden Nachmittag sollte es noch dicker kommen. Monika und ich waren noch daheim, als es an unsere Türe klopfte. Es war Frau Höflinger: „T´ schuldigen s´, aber wissen s´, ich wart am lieben Gott, aber jetzt kommt er nicht und i weiß ja net, was i tun soll.“
Ehrlich gesagt, wir wussten es auch nicht und das stand uns wohl in aller Ausdrücklichkeit in die Gesichter geschrieben. Gott sei Dank, denn sie setzte nach: „Der liebe Gott kommt nicht. Sie ham ihn a net g´ sehn. Nein. Was soll ich den nur machen? T´ schuldigen s´, bitte, t´ schuldigen s´. I stör sie ja. T´ schuldigen s´.“ – Und weg war sie wieder.
Monika und ich standen uns rat- und sprachlos gegenüber.
„Was mach´ ma denn mit ihr?“, fragte ich schließlich.
„Die is fertig,“ meinte Monika.
„Ja, das wär ich wohl auch, aber was mach´ ma denn?“
„Hoin ma s´ eina auf an Kaffee.“ Das war ein Befehl mit Fragezeichen hinten und wir schüttelten gleichzeitig den Kopf, um uns dann darauf zu einigen, wir laden sie ein, aber dann und nur dann, wenn sie noch mal auf den Gang kommt.
„Und was dann?“, fragte ich in meiner Hilflosigkeit.
„Dann hören wir uns Geschichten über den lieben Gott an.“
Aber dazu kam es nicht, denn die Höflingerin mied sodann den Gang.

Einmal in dieser Woche stürmte die alte Höflingerin noch hinaus in den Gang und schrie, dass das Haus erzitterte: „Lieber Herr Jesus Christus. Hier spricht Elfriede Höflinger, Boerhaavegasse 3, Stiege 1, Tür 6. Hörst du mich? Lieber Herr Jesus Christus, bitte komm und hol mich.“

Den guten Draht in Gottes Ehren, aber diesen Wunsch mag er ihr noch lang verwehren.

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